Verstehen statt verurteilen
Das diesjährige Motto des Aktionstags Alkohol, «verstehen statt verurteilen», entspricht dem Ansatz, mit dem die Berner Gesundheit arbeitet. Was das genau heisst, erklärt Christina Messerli, Bereichsleiterin Beratung und Therapie, im Interview.
Welche Haltungen prägen die Zusammenarbeit mit Menschen mit Abhängigkeit?
Wenn Menschen konsumieren und dabei in eine Abhängigkeit geraten, spielen immer unterschiedliche Einflüsse eine Rolle. Unser multifaktorielles Verständnis von Sucht sowie die bio-psycho-soziale Sichtweise, die unserer Arbeit zugrunde liegt, sehen Menschen mit dem, was sie mitbringen und was sie geprägt hat, wie es ihnen gesundheitlich geht (bio), wie es ihnen seelisch geht (psycho) und in welchen Bedingungen und Beziehungen (sozial) sie leben.
Um Menschen, ihr Verhalten und ihre Gefühle besser zu verstehen, ist für uns in der Beratung und Therapie die systemische Haltung zentral. Sie geht davon aus, dass Probleme und problematisches Verhalten nicht einfach Eigenschaften von Individuen sind. Sie sind Ausdruck von Einflüssen, Wechselwirkungen und Spannungen in Systemen wie Schule, Familie, Arbeit oder Freundeskreis.
So kann zum Beispiel der Verlust eines nahestehenden Menschen dazu führen, dass jemand, der jahrelang einen risikoarmen Konsum hatte, auf einmal in einen Risikokonsum schlittert. Ebenso bringen strukturelle oder lebensgeschichtliche Gegebenheiten wie Armut, Arbeitsverlust, Traumata oder die Tatsache, mit sucht- oder psychisch erkrankten Eltern aufgewachsen zu sein, bereits per se ein grosses Risiko für Abhängigkeitserkrankungen mit sich. Ebenso zu den Risikofaktoren zählt der immer grösser werdende Markt von abhängigkeitserzeugenden Angeboten im Online-Bereich (Gamen, Sportwetten, Social Media), der auch auf Kinder und Jugendliche abzielt.
Konsum- oder ein Suchtverhalten bekommen für Betroffene oft eine Art Funktion und werden zu Bewältigungsstrategien, die es zu verstehen gilt. So kann Alkoholkonsum zum Beispiel zum Stress-Regulator werden oder in konflikthaften Situationen einen Moment der Distanz schaffen. Der Griff zum Smartphone gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und das Geldspiel unterbricht für einen Moment lang negative Gefühlswelten.
Verstehen heisst deshalb für uns in Beratung und Therapie in erster Linie zuzuhören und nachzufragen. Gemeinsam mit den Klient:innen decken wir die verschiedenen Einflüsse und Zusammenhänge auf, um dann schrittweise gesündere Bewältigungs-Strategien zu entwickeln. Wichtig ist dabei auch der Einbezug der Angehörigen. Denn «verstehen statt verurteilen» heisst ebenfalls, dass sowohl Betroffene wie auch das Umfeld wissen, dass Sucht eine psychische Erkrankung ist, deren Bewältigung und Behandlung Zeit, Aufmerksamkeit sowie fachliche Unterstützung erfordert.
Wie verbreitet ist Alkoholkonsum in der Schweiz?
In der Schweiz trinken 83% der Bevölkerung ab 15 Jahren Alkohol, wobei sich dieser Anteil in den letzten 30 Jahren kaum verändert hat. Der tägliche Alkoholkonsum hat in den letzten Jahren zwar abgenommen, Rauschtrinken bleibt jedoch laut dem Schweizer Suchtpanorama 2025 auf einem problematisch hohen Niveau.
Jede fünfte Person in der Schweiz konsumiert Alkohol in einem missbräuchlichen Mass, entsprechend hat etwa jede dritte Person mindestens eine Person mit Alkoholproblemen in ihrem Umfeld. Die Anzahl der Menschen mit Alkoholabhängigkeit wird in der Schweiz auf etwa 250’000 geschätzt.
Die Folgen des übermässigen Alkoholkonsums sind für Betroffene wie auch das Umfeld gravierend: Er ist eine der Hauptursachen für vorzeitige Sterblichkeit (Tod durch Unfälle, Verletzungen, Krebserkrankungen oder Leberzirrhose). Bei etwa der Hälfte aller untersuchten Gewaltdelikte spielt Alkohol eine Rolle. 2023 war Alkoholkonsum der Grund für die Hälfte aller Eintritte in professionelle Suchthilfeeinrichtungen. Die durch übermässigen Alkoholkonsum verursachten Kosten betragen jährlich rund 2,8 Milliarden Franken.
Worauf kann ich achten, damit ich mich im Umgang mit betroffenen Menschen verständnisvoll verhalte und nicht verurteile?
Es ist wichtig, hinter jedem Verhalten den Menschen in seiner Gesamtheit und seinem Kontext zu sehen. Wenn ich mir Sorgen um eine Person mache, kann ich dies zur Sprache bringen und benennen, was mir auffällt, was ich beobachte und was mir Sorgen macht. Zudem kann ich ein Gespräch anbieten und der Person sagen oder schreiben, dass ich für sie da bin. Wichtig ist es, der Person Zeit zu lassen. Angebote sind nur dann Angebote, wenn sie auch abgelehnt werden dürfen. Das klingt schwer, macht es aber für Betroffene einfacher, im eigenen Tempo zu reagieren und allenfalls um Unterstützung zu bitten. Belasten mich die Probleme anderer Personen und sind diese noch nicht bereit, sich Hilfe zu holen, kann man auch für sich selbst Unterstützung holen.
Da wir wissen, dass die Belastung für Personen aus dem Umfeld genauso gross sein können, gelten die Beratungsangebote der Berner Gesundheit ebenso für sie. Ein Anruf und ein erster Austausch können oft schon eine Entlastung bringen.
Quellen zur Verbreitung des Alkoholkonsums in der Schweiz
- Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022, besucht am 29.04.2025
- Schweizer Suchtpanorama 2025, heruntergeladen am 29.04.2025
- Bundesamt für Gesundheit (BAG), besucht am 29.04.2025
- Suchtschweiz, besucht am 29.04.2025
- Volkswirtschaftliche Kosten von Sucht, Polynomics, 2021, heruntergeladen am 29.04.2055