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Zwei Frauen stehen nebeneinander und unterhalten sich

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Familienbasierte Therapie stärkt Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen

Um Eltern von Kindern und Jugendlichen mit einer Essstörung im Umgang mit der Krankheit ihres Kindes zu unterstützen, setzt die Berner Gesundheit seit 2022 vermehrt auf die Familienbasierte Therapie (FBT). Elemente der Methode werden sowohl in der Familien- wie auch in einem Gruppenangebot eingesetzt. Das Online-Gruppenangebot wird abends durchgeführt und stösst bei den Teilnehmenden auf viel positives Echo.

Psychische Belastungen und Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben in den letzten Jahren europaweit zugenommen. Die COVID-19-Pandemie hat die Situation für Kinder und Jugendliche zusätzlich verschärft. Bei den Essstörungen hat insbesondere die Magersucht zugenommen.

Viele Betroffene und ihr Umfeld stossen heute auf ein überlastetes Versorgungssystem und müssen lange auf einen Behandlungsplatz warten. Wenn keine lebensbedrohliche Situation vorliegt, kann die Wartezeit mehrere Monate betragen. Verweigert das Kind im Verlauf der Krankheit Anorexia nervosa die Nahrungsaufnahme vollständig, kämpfen die Eltern um das Leben ihres Kindes.

 

Junge Frau mit Wollmütze blickt auf Stadt im Sonnenuntergang

Um Eltern von Kindern und Jugendlichen mit einer Essstörung im Umgang mit der Krankheit ihres Kindes zu unterstützen, setzt die Berner Gesundheit in der Beratung von betroffenen Familien und Bezugssystemen vermehrt auf die familienbasierte Therapie (FBT). Sie hat zum Ziel, dass die Eltern und Bezugspersonen zu «Expert:innen» für die Essstörung werden und besser mit der Krankheit umgehen lernen. Die Erkenntnis, dass nicht sie oder das Kind für die Krankheit verantwortlich sind, sondern dass die Krankheit das Kind kontrolliert, hilft den meisten Eltern, besser mit der Situation klar zu kommen.

FBT wurde in den 1970er und 80er Jahren am Maudsley Hospital in London entwickelt. Die Methode ist deshalb in erster Linie als Maudsley Methode bekannt. In den USA wird die Methode seither vor allem von Prof. Daniel Le Grange und Dr. James Lock weiterentwickelt und erforscht. FBT gilt in Grossbritannien, den USA, Kanada, Neuseeland und Australien als Standardbehandlung bei Magersucht. In einer Metastudie konnte gezeigt werden, dass 6 bis 12 Monate nach der Behandlung, Jugendliche, die mit dem FBT-Ansatz behandelt wurden, der Gruppe, die eine individuelle Behandlung erhielt, bezüglich Rückfallen signifikant überlegen waren.

Seit einem halben Jahr bietet die Berner Gesundheit eine Online-Gruppe für Eltern und Bezugspersonen an, die auf dem FBT-Ansatz basiert. In der Gruppe können sie sich gegenseitig motivieren und voneinander lernen. Im Interview geben Susanne Anliker und Heinz Lengacher Einblick in ihre Arbeit.

In welchen Situationen befinden sich die Eltern, die das Angebot nutzen?

Susanne Anliker: Das ist sehr unterschiedlich. Einige Eltern haben erst vor kurzem erfahren, dass bei ihrem Kind Anorexie oder Bulimie diagnostiziert wurde und fühlen sich oft sehr hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie ihrem Kind helfen können.

Andere Eltern haben ein Kind, das bereits seit längerer Zeit gegen die Essstörung ankämpft und möglicherweise einen Klinikaufenthalt hinter sich hat. Diese Eltern haben schon vieles versucht, um ihrem Kind zu helfen. Ihre Erfahrungen, was ihnen geholfen hat und was nicht, können sie mit den anderen Eltern teilen.

Was ist die Kernbotschaft der FBT-Therapie an die Eltern?

Susanne Anliker: Es ist nicht eure Schuld, dass euer Kind eine Essstörung hat. Ihr als Eltern seid die wichtigste Ressource für euer Kind.
Ihr könnt lernen, zu Hause das zu tun, was Fachpersonen in einer stationären Einrichtung tun würden. In der ersten Phase steht die Gewichtszunahme im Vordergrund und für euer Kind gilt: Essen ist Medizin!

Wie reagiert das Umfeld der betroffenen Familien?

Heinz Lengacher: Nicht selten reagiert das Umfeld mit Unverständnis oder mit Vorurteilen auf diese Erkrankung: Die Eltern hätten in der Erziehung etwas falsch gemacht und deshalb sei das Kind so schwer krank. Das kann für die Angehörigen sehr belastend sein. Ein verständnisvolles Umfeld ist dagegen eine enorme Unterstützung. Manchmal gibt es Grosseltern, Onkel, Tanten oder Göttis, die in das Unterstützungsnetz einbezogen werden können. Es gibt Familien, in denen der Grossvater wöchentlich mit der Enkelin über den Mittag essen geht oder ein Gotti das Kind zur Schule begleitet, weil es grosse Ängste plagen.

Person mit Kopfhörern spaziert durch nächtliche Strassen

Ihr arbeitet online mit betroffenen Eltern und Bezugspersonen. Wie läuft das ab?

Susanne Anliker: Die Elterngruppen finden an vier Abenden im Abstand von etwa drei Wochen statt und dauern jeweils 90 Minuten. Wir beginnen jeweils mit einer Befindlichkeitsrunde. Mit der Zeit lernen sich die Eltern gegenseitig kennen und wissen wie es zu Hause läuft. Mal gibt es Erfolge, mal Rückschläge zu berichten. Die Eltern schätzen es besonders, andere Eltern zu treffen, die ihre Situation nachempfinden können. Sie betonen auch, wie wichtig es sei, voneinander lernen zu können. Nach der Befindlichkeitsrunde folgt ein neuer FBT-Input, der anschliessend diskutiert wird. Die Inputs an den vier Abenden sind: «Den Teufelskreis der Essstörung in den Beziehungen erkennen und durchbrechen», «Einfühlung und Kommunikation mit den betroffenen Jugendlichen», «Hilfe die Essstörung frisst uns auf» und «Die richtige Balance finden».

Was ist das Besondere an der Online-Durchführung?

Heinz Lengacher: Die Online-Form hat Vor- und Nachteile. Es kam schon vor, dass es Eltern wichtig war, anonym zu bleiben. Dem konnte leicht entsprochen werden, da wir in den Gruppen nur die Vornamen angeben und per du sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Eltern von zu Hause aus teilnehmen können und so die Wegzeiten wegfallen. Ausserdem finden die Online-Gruppen immer nach dem Abendessen statt. So können die Eltern die Jugendlichen bei den Mahlzeiten unterstützen. Ein Nachteil ist, dass sich nicht alle gleich gerne online austauschen. Bei grösseren Gruppen ist es schwierig, den Überblick zu behalten und vor technischen Pannen waren wir auch nicht immer gefeit.

Woran erkennt ihr, dass sich Eltern stärker und kompetenter fühlen?

Susanne Anliker: Vor allem an den Rückmeldungen der Eltern. Sie erzählen uns zum Beispiel, dass sie eine neue Strategie ausprobiert haben, die ihnen geholfen hat, in einer schwierigen Situation (z.B. beim Essen) die Ruhe zu bewahren und eine wohlwollende, liebevolle und gleichzeitig klare Haltung einzunehmen. Angehörige von einem Jugendlichen mit Essstörungen sind sehr gefordert und belastet. Zu wissen, dass andere Eltern verstehen, wie das ist und wie sich eine bestimmte Situation anfühlt, ist für sie eine hilfreiche und entlastende Erfahrung.

Person schlendert dem Sonnenaufgang entgegen

Welche Erfahrungen macht ihr als Leitende dieses Angebots?

Heinz Lengacher: Eine Essstörung bringt das ganze Familiensystem durcheinander und wirkt sich immer auf alle Angehörigen aus, also auch auf die Geschwister. Wir sind beide Eltern und haben grossen Respekt vor dem, was Eltern mit einem kranken Kind leisten müssen – das ist bei einem Kind mit Essstörungen nicht viel anders als bei einem krebskranken Kind. Es braucht Zeit, Engagement und Wissen, um mit einer Essstörung umzugehen. Oft sind wir auch sehr berührt und betroffen von den Erzählungen der Eltern und von dem, was sie zu bewältigen haben. Die schlechte Versorgungslage verschärft die Situation der Eltern dramatisch und es sollte viel mehr FBT-Therapeut:innen geben, damit die Eltern Wissen über Symptome, Risiken, Behandlung und Prognose und vor allem über ihre wichtige Rolle erhalten, die sie bei der Genesung ihres Kindes spielen können.

Könnt ihr einen Höhepunkt schildern?

Susanne Anliker: Ein Highlight war, als eine Mutter erzählte, sie sei jetzt «Krisenmanagerin» und habe ihre Rolle als «Unterstützerin» gefunden. Sie fühle sich jetzt nicht mehr der Angst ausgeliefert, ihre Tochter zu verlieren, sondern wisse nun besser, was zu tun sei, wenn ihre Tochter in Panik das Essen verweigere. Ein weiterer Höhepunkt war, dass mehrere Eltern bestätigen konnten, dass die Gewichtszunahme ihrer Kinder eindeutig mit einer Abnahme von Angst und depressiven Symptomen einherging.

Wie geht es mit der Elterngruppe weiter?

Susanne Anliker: Einige Eltern möchten nach dem letzten vierten Abend oft noch weitermachen. Wir haben bei der zweiten Gruppe noch zwei weitere Abende angehängt. Ob wir möglicherweise eine Gruppe in eine Selbsthilfegruppe überführen können, wissen wir noch nicht. Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Fest steht, dass wir nach den Sommerferien mit der dritten Elterngruppe starten werden.

Was möchtet ihr noch sagen?

Heinz Lengacher: Es ist an der Zeit, dass FBT in der Schweiz ankommt und sich als Behandlungsansatz für Kinder und Jugendliche mit Essstörungen etabliert. Gerade in der aktuellen schwierigen Versorgungslandschaft ist es für Eltern wichtig zu wissen, wie sie ihrem Kind helfen können. Früher ging man davon aus, dass das Kind mit einer Essstörung in eine Therapie gehen muss, damit es wieder (richtig) essen kann. Heute weiss man, dass das Kind zuerst an Gewicht zunehmen muss, bevor es überhaupt therapiefähig ist.

Susanne Anliker: Nicht alle Eltern können – aus verschiedenen Gründen – die Aufgabe übernehmen, ihrem Kind wieder auf die Beine zu helfen. Es braucht immer auch stationäre Angebote, um Kinder und Jugendliche zu betreuen, deren Gewicht eine bestimmte Schwelle unterschritten hat.

Besten Dank für das Gespräch.

Online-Gruppe für Eltern von Jugendlichen mit Essstörungen

Nächste Durchführung: 17.8. – 19.10. 2023, 4 Abende, jeweils 19:30 bis 21 Uhr.
Anmeldung: Per Mail susanne.anliker@beges.ch oder Telefon 033 225 44 00
Ausschreibung (PDF)

Zu den Personen

Susanne Anliker

Susanne Anliker ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie arbeitet seit 2018 als Fachmitarbeiterin Beratung und Therapie im Zentrum Berner Oberland der Berner Gesundheit.
E-Mail: susanne.anliker@beges.ch

Heinz Lengacher

Heinz Lengacher ist diplomierter Sozialarbeiter, systemisch-lösungsorientierter Therapeut und Berater sowie NPO-Manager. Er arbeitet seit 2015 als Regionalleiter des Zentrums Berner Oberland der Berner Gesundheit.
E-Mail: heinz.lengacher@beges.ch

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