Sexualaufklärung von Jugendlichen mit Beeinträchtigung
Anlässlich der Sensibilisierungskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» haben wir uns mit Sexualpädagoge Patrick Kollöffel unterhalten. Thema der diesjährigen Kampagne ist nämlich geschlechtsspezifische Gewalt und Behinderungen.
Patrick arbeitet seit 16 Jahren bei der Berner Gesundheit. Neben sexualpädagogischen Gruppengesprächen mit Schüler:innen führt er regelmässig Einzelgespräche, Elternangebote sowie Schulungen für pädagogische Fachpersonen durch. Eines seiner Spezialgebiete ist Sexualpädagogik für Jugendliche mit Beeinträchtigung.
1. Welchen Themen begegnest du bei der Arbeit mit Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung?
Das ist unterschiedlich und hängt vom Menschen sowie teilweise von der Art der Beeinträchtigung ab. Wiederholt nachgefragte Themen sind Freund:in finden, Entwicklung des eigenen Körperbildes und Köpergefühls, Umgang mit Nähe und Distanz, Selbstbefriedigung, Pornografie oder die Frage, wie Kinder entstehen.
2. Welche Herausforderungen gibt es? Was ist gleich und was anders in der Sexualaufklärung von Jugendlichen mit Beeinträchtigung?
Die körperliche Entwicklung unterscheidet sich in der Regel nicht. Die emotionale sowie kognitive Entwicklung findet jedoch oft stark verzögert statt. Dies insbesondere bei Jugendlichen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Je älter das Kind wird, desto sichtbarer werden diese unterschiedlichen Entwicklungen. So kann zum Beispiel ein Junge mit 14 Jahren gerne mit Kindern im Alter von 4 Jahren spielen und Körpererkundungen machen. Dies ist von aussen gesehen auffallend und aufgrund der ungleichen Kräfteverhältnisse zu unterbinden. Für den Jungen fühlt es sich emotional und kognitiv jedoch richtig an. Sein pubertierender Körper passt jedoch nicht mehr zur Situation.
Zudem kann das körperliche Schamgefühl gar nicht oder stark verzögert entwickelt sein. Fehlt dieser natürliche Schutz, müssen zusätzliche Schutzmassnahmen geprüft und angewendet werden. Zum Beispiel beim Umkleiden in einem öffentlichen Bad. Fehlt das körperliche Schamgefühl kann es sein, dass es die Person mit kognitiver Beeinträchtigung nicht stört, sich vor allen und überall nackt zu zeigen. Damit gefährdet sie sich im öffentlichen Raum selber und Schamgrenzen von Anderen können verletzt werden. Zusätzliche Schutzregeln sind notwendig. Zum Beispiel: beim Umkleiden gilt die Regel, sich nur in der geschlossenen Umkleidekabine umzuziehen. Oder: der Genitalbereich muss immer mit einem Badetuch abgedeckt sein.
Junge Menschen mit einer Beeinträchtigung sind aufgrund ihrer Beeinträchtigung in einem hohen Mass auf Unterstützung angewiesen. Diese Abhängigkeit kann dazu führen, dass Freiräume für Entwicklung fehlen und das Umfeld den jungen Menschen mit Beeinträchtigung wenig Ablösung und somit wenig Selbständigkeit ermöglicht.
Das soziale Umfeld beschränkt sich oft auf die Familie und die Schule mit all ihren Angeboten. Soziale Kontakte ausserhalb dieser kleinen Welt zu finden, ist oft erschwert. Hier kann der Zugang und die Nutzung von sozialen Medien helfen. Dort können Sie bestehende Kontakte pflegen und intensivieren sowie neue Freund:innen finden.
3. Was wünschst du dir von Eltern, Schulen und Institutionen, um Sexualaufklärung für Jugendliche mit Beeinträchtigungen zu verbessern?
Sexualaufklärung muss standardmässig zur Erziehungs- sowie Bildungsaufgabe gehören. Alle Kinder und Jugendliche haben ein Anrecht auf sexuelle Bildung. Ich wünsche mir, dass die Eltern, Bezugspersonen, Lehrpersonen sowie andere Fachpersonen im Umfeld von jungen Menschen mit einer Beeinträchtigung ihre sexualerzieherische Aufgabe aktiv wahrnehmen. Dies trägt massgeblich zur Entwicklung eines möglichst selbstbestimmten Liebes- und Sexuallebens bei. Wichtig ist auch, dass sich die unterschiedlichen Verantwortlichen im System untereinander absprechen und austauschen. Eltern sowie Fachpersonen können sich bei Fragen rund um die Sexualerziehung gerne bei der Berner Gesundheit beraten lassen.
4. Kannst du eine konkrete Situation nennen, die dir besonders geblieben ist?
Ein 17-jähriger junger Mann mit kognitiver Beeinträchtigung kam zu mir in die Einzelberatung. Seine Bezugsperson der Institution hatte ihn zugewiesen. Beim ersten Treffen war er sehr verschlossen, eher im Widerstand und konnte kein persönliches Anliegen formulieren. Aber er wollte unbedingt wiederkommen. Während den weiteren Treffen hat er sich mehr und mehr geöffnet und wir haben über seine Unsicherheiten betreffend seiner sexuellen Orientierung gesprochen. Für ihn war es das erste Mal, dass er überhaupt mit jemandem über dieses Thema sprechen konnte. Am Ende des Beratungsprozesses wirkte er deutlich selbstbewusster, erleichtert und überglücklich. Er hat auch einen anderen Jungen kennen gelernt und verbringt mit ihm viel Zeit. Er sei wohl etwas verliebt, hat mir der junge Mann beim Abschlussgespräch mitgeteilt.
5. Warum ist Sexualaufklärung wichtig für die Gewaltprävention?
Die hohe Abhängigkeit vom näheren Umfeld und von gegebenen Strukturen führt dazu, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung ein erhöhtes Risiko haben, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Deshalb ist es wichtig, dass junge Menschen mit Beeinträchtigung früh lernen, was gute und schlechte Gefühle sind und welche Berührungen in Ordnung sind und welche nicht. Zudem ist wichtig, dass sie einen Bezug zum eigenen Körper entwickeln, die einzelnen Körperteile benennen und verorten können und wissen, was sie tun können, wenn sie ungute Gefühle wahrnehmen. Die sexuelle Entwicklung sowie deren Begleitung soll im Umfeld aktiv thematisiert werden. Das ermöglicht den Kindern und Jugendlichen auch, konkrete Fragen zu Sexualität zu stellen. Gut ist, wenn den Kindern und Jugendlichen verschiedene Ansprechpersonen zur Verfügung stehen. Gelebte Sexualaufklärung trägt somit wesentlich zum besseren Schutz vor sexueller Gewalt bei.
Haben Sie Fragen, wünschen Sie sich eine Einzelberatung oder ein Gruppengespräch für Ihre Schulklasse? Melden Sie sich bei uns per Mail an sexualpaedagogik@beges.ch.