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Gimma Lesung

«Ich dachte, das sei normal.»

Über das Aufwachsen in einer suchtbelasteten Familie

Rund 80 Besucher:innen erlebten Ende August im Stellwerk Bern einen berührenden Abend mit Gian-Marco Schmid und dem Buch «Abschiede von Mutter». Der Autor und Musiker, bekannt als «Gimma», las aus seinem autobiografischen Text über das Aufwachsen mit einer alkoholkranken Mutter. Die Veranstaltung der Berner Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Stellwerk Bern machte ein Thema sichtbar, das in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Tabu ist: Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen.

Trotz dem schweren Thema war das Interesse beim Publikum gross. Am 26. August 2025 las Gian-Marco Schmid, Autor und Musiker, aus seinem Buch «Abschiede von Mutter» und sprach über seine Kindheit mit einer suchtkranken Mutter. Rund 80 Personen nahmen an der Veranstaltung der Berner Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem Stellwerk Bern teil.

Einblicke in eine zerrüttete Familie

Alkohol, Drogen und Geldsorgen waren stete Begleiter der Familie, Verwahrlosung und Gewalt eine Realität für Gian-Marco Schmid und seine Schwester. «Dass die Polizei regelmässig vor der Tür steht, dass man nie weiss, in welchem Zustand man die Mutter antrifft – das war für mich Normalität.»

Trotz Polizeieinsätzen und Meldungen der Schule liess man die Geschwister bei einer Mutter, die oft nicht nur psychisch, sondern teils auch physisch abwesend war. Als Schmid unter dem Künstlernamen «Gimma» bekannt wurde und als Gangster-Rapper seinen Alltag beschrieb, ahnte kaum jemand, dass die Szenen geprägt von Drogen, Exzess und Gewalt tatsächlich real sein könnten. Was Schmid selbst jahrelang als normal betrachtete, ist für Aussenstehende unvorstellbar. Das Publikum zeigte sich sichtlich bewegt. 

Kinder gaben sich die Schuld

Der Grund für den Konsum der Mutter fanden die Kinder bei sich selbst. Sie gaben sich die Schuld daran, dass es ihr schlecht ging, dass sie den Stress mit Kiffen abbauen und sich die (Geld-)Sorgen schöntrinken musste. Es war für die Anwesenden schwer erträglich zu hören, als Schmid über diese Schuldgefühle sprach, die er und seine Schwester jahrelang in sich trugen: «Wir dachten, wir seien der Grund, warum Mama trinkt. Sie selbst hat uns dies ja immer wieder gesagt.» In der Tat dachte niemand daran, den Kindern zu erklären, dass die Mutter bereits vor ihrer Geburt suchtkrank war. Erst viel später, als er sich als Erwachsener mit seiner Kindheit und der Krankheit seiner Mutter auseinandersetzte, merkte Schmid, dass andere nicht so aufgewachsen sind. Mit über 30 Jahren erfuhr er schliesslich von seinem Vater, dass die Mutter lange vor der Geburt der Kinder angefangen hatte zu konsumieren.

Fachlicher Dialog sorgt für Einordnung

Martina Buchli, Fachmitarbeiterin für Gesundheitsförderung und Prävention bei der Berner Gesundheit, moderierte das Gespräch zwischen den gelesenen Passagen. Sie gab den Anwesenden eine Stimme im persönlichen Dialog mit Schmid und ordnete seine Geschichte in den gesellschaftlichen Kontext ein: «In der Schweiz wachsen schätzungsweise 100’000 Kinder in suchtbelasteten Familien auf. Heruntergebrochen auf den Kanton Bern sind zwei bis drei Kinder pro Schulklasse.» Keine kleine Zahl also. Und trotzdem bleiben diese Kinder häufig unsichtbar.

Ein doppeltes Tabu durchbrechen

Buchli betonte: «Suchtkranke Eltern sind eine Art doppeltes Tabu. Die Scham in Bezug auf Suchterkrankungen ist sehr gross, es wird nicht darüber gesprochen. Noch stärker ist diese, wenn es um Mütter oder Eltern geht.» Auch darunter litt Schmid offensichtlich. So antwortete er auf Buchlis Frage, was er sich als Kind am meisten gewünscht hätte: «Dass jemand zu mir gesagt hätte, es ist nicht deine Schuld. Und dass jemand gehandelt hätte, statt nur wegzuschauen.»

Obwohl sich seit den 1990er Jahren viel getan hat in Bezug auf Kindsschutz und die Sensibilisierung für Suchterkrankungen deutlich zugenommen hat, geht es immer noch zu vielen so wie es Schmid und seiner Schwester ergangen ist.

Die Löwenzahnkinder

Aus diesem Grund setzt sich Schmid mit dem Verein Löwenzahnkinder für Kinder und Jugendliche aus suchtbelasteten Familien ein und gibt ihnen eine Stimme. Sein Appell: «Denkt zuerst an die Kinder. Zu oft liegt der Fokus nur auf der suchtkranken Person. Die Kinder werden vergessen.» Doch gerade sie leiden sehr stark unter der Situation, haben Schuldgefühle und wagen sich nicht, über Missstände zu sprechen.

Grosses Interesse am Austausch

Nach der eineinhalbstündigen Veranstaltung bildeten sich kleinere Gesprächsgruppen. Am Büchertisch der Buchhandlung Sinwel war der Andrang gross – viele nutzten die Gelegenheit, sich ihr Exemplar von Schmid signieren zu lassen. «Es ist wichtig, dass solche Geschichten erzählt werden», meinte eine Besucherin beim Verlassen des Stellwerks.

Die Veranstaltung machte deutlich: Hinter Schmids künstlerischem Erfolg als Gangster-Rapper steht eine schmerzhafte Lebensgeschichte. Dass er heute offen darüber spricht, gibt anderen Betroffenen Mut – und der Gesellschaft die Chance, hinzuschauen, statt wegzusehen.

Die Berner Gesundheit sensibilisiert im Rahmen des Nationalen Programms «Kinder von Eltern mit Suchterkrankung» für das Thema. Weitere Informationen: kinder-eltern-sucht.ch