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Zwei Frauen stehen nebeneinander und unterhalten sich

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«Kinder sind sehr sensibel und bekommen früh viel mehr mit, als wir meinen.»

Wie erleben Kinder von suchtkranken Eltern den Alltag in ihrer Familie? Was beschäftigt sie? Anhand von authentischen Aussagen und Zeichnungen von betroffenen Kindern, skizzieren Ursina Bill und Marion Thalmann von der Berner Gesundheit, die grössten Herausforderungen und Belastungen, aber auch Unterstützungsmöglichkeiten.

Lenny

Zeichnung von Lenny, 5 Jahre alt

Marion Thalmann: In den Beratungsgesprächen erlebe ich oft, dass suchbetroffene Eltern ihre Probleme sowohl innerhalb der Familie als auch nach aussen verstecken oder verleugnen möchten. Sie sind meist überzeugt, dass die Kinder oder ihr Umfeld nichts von ihrem Suchtverhalten mitbekommen. Die Zeichnung vom fünfjährigen Lenny zeigt, dass dem nicht so ist. Kinder sind sehr sensibel und haben ein feines Sensorium. Sie bekommen schon im frühen Alter viel mehr mit, als wir meinen. In Lennys Darstellung wirkt die Alkoholsucht des Vaters einengend und nimmt viel Raum ein. Die verkorkte riesige Flasche symbolisiert für mich die Einsamkeit und die Isolation, die wir in vielen suchtbelasteten Familien antreffen.

Ursina Bill: Die Flasche wirkt wie eine andere Welt des Vaters, zu der Lenny aber auch andere Personen keinen direkten Zugang haben.

«Ich schäme mich, wenn ich mit meinem Vater im Bus bin, wenn er Alkohol getrunken hat. Er spricht dann so laut.» Leo, 11 Jahre alt

Marion Thalmann: Leo fühlt in diesem Moment Scham. Kinder im Allgemeinen wollen nicht auffallen, sie wollen dazu gehören, sich nicht von anderen unterscheiden. Die Situation ist für Leo sehr unangenehm und in gewisser Weise sogar bedrohlich. Eine Suchterkrankung ist oft ein Familiengeheimnis: Niemand soll davon erfahren. Ein Kontrollverlust des alkoholisierten Vaters in der Öffentlichkeit bedroht demzufolge das Geheimnis.

Ursina Bill: Diese Angst, dass das Familiengeheimnis auffliegt kann auch dazu führen, dass die Kinder für ihre Eltern zu lügen beginnen. Sie bringen zum Beispiel die Einladung für einen Elternabend gar nicht nach Hause und erklären der Schule, die Mutter oder der Vater sei krank oder habe eine Sitzung und könne deshalb nicht am Elternabend teilnehmen. Dies kann zusätzlich zu einer zunehmenden Isolation und Vereinsamung beitragen.

«Solange ich bei Mama war, hat Papa nicht mit ihr gestritten. Ich hatte sogar in der Schule noch Angst vor allem vor Streit.» Sylvia, 9 Jahre alt

Marion Thalmann: Es ist eine traurige Tatsache: Kinder aus suchtbelasteten Familien sind tendenziell viel häufiger Streit und häuslicher Gewalt ausgesetzt als andere Kinder. Die Aussage von Sylvia zeigt auch gut auf, dass die Rollen oder Hierarchien in suchtbelasteten Familien häufig verschoben sind: Das Mädchen sieht sich als Beschützerin. In der Beratung erleben wir oft, dass sich die Kinder weitere, nicht altersgerechte Rollen aufbürden, etwa als Vermittelnde zwischen den Eltern. Diese zusätzliche Belastung kann bei Kindern grossen Stress auslösen und negativen Folgen haben: In der Schule leidet beispielsweise die Konzentration, weil ihre Gedanken ständig um die Situation zu Hause kreisen.

Ursina Bill: Die Schule ist ein wichtiger Ort, der Kindern durch Kontinuität, Regeln und Rituale einen stabilen und geschützten Rahmen gibt und möglichst positive und gute Beziehungen bieten kann; alles Faktoren, die Kinder von suchtkranken Eltern zu Hause meist nicht haben. Aus der Resilienzforschung wissen wir, dass zum Beispiel Lehrpersonen oder Schulsozialarbeitende in diesen Situationen wichtige Bezugspersonen für die betroffenen Kinder sein können. Etwa indem sie ihnen in diesem vertrauensvollen und zuverlässigen Rahmen einen Raum bieten, wo sie über ihre Gefühle reden, Fragen stellen und Unterstützung holen können.

«Ich weiss nicht, warum meine Mutter trinkt, aber einmal hat sie gesagt, dass mein Bruder und ich schuld sind.» Simon, 10 Jahre alt

Marion Thalmann: Dieses Zitat geht mir nahe. Neben Scham sind Schuldgefühle für die betroffenen Kinder eine grosse Belastung. Die Kinder fühlen sich oft schuldig für das Suchtproblem der Mutter oder des Vaters und suchen den Fehler bei sich. Ähnliches Verhalten kennen wir auch von Scheidungskindern, die sich für den Streit zwischen den Eltern verantwortlich fühlen. Übermässiger Substanzkonsum bzw. Rausch führt zu Kontrollverlust und unberechenbarem Verhalten. Ich kann mir vorstellen, dass die Mutter ihre Aussage, wenn sie wieder nüchtern ist, bereut und zurücknimmt. Dieses Wechselbad der Gefühle ist für Kinder sehr schwer auszuhalten und es kann sie zutiefst verunsichern. Sie wissen nicht mehr, was sie glauben und wem sie vertrauen sollen.

Ursina Bill: Massive Schuldgefühle bei Kindern beeinträchtigen deren gesunde Entwicklung. Ein Kind soll in erster Linie Kind sein können. Es soll sich nicht durch angepasstes Verhalten die Liebe oder Anerkennung der Eltern «verdienen» müssen. Hier kann eine Bezugsperson aus dem privaten oder schulischen Umfeld des Kindes viel beitragen und Druck wegnehmen: Etwa indem sie das Thema Sucht, das «Warum» und die Schuldgefühle kindgerecht anspricht und dem Kind vermittelt, dass es keine Schuld hat.

Marion Thalmann: Die kindliche Frage nach dem «Warum» taucht auch in den Beratungsgesprächen auf: Zum Beispiel, wenn der betroffene Elternteil einen Rückfall hatte. Die Enttäuschung kann bei den Kindern sehr gross sein. In solchen Situationen erlebe ich sie traurig oder sie zweifeln an der Liebe der Eltern zu ihnen. Auch in diesen Fällen ist es wichtig zu betonen, dass sie keine Schuld tragen.

«Wenn ich einschlafen soll, sehe ich in der Vorstellung meinen Vater vor mir, wie er betrunken stürzt. Ich kann dann nicht einschlafen und habe Angst.» Elia, 12 Jahre alt

Ursina Bill: Angst lähmt Kinder und beeinflusst ihr Verhalten in allen Lebensbereichen. Sie hat für die betroffenen Kinder gravierende Auswirkungen: sei es zu Hause, in der Schule oder in der Freizeit. Anhaltende Konzentrations- oder Schlafstörungen können neben anderen Verhaltens- oder Wesensveränderungen wichtige Warnsignale für Personen im Umfeld des Kindes sein. In der Früherkennung ist es wichtig, Änderungen im Verhalten des Kindes oder des Jugendlichen wahrzunehmen und anzusprechen. So wird ihnen die Botschaft vermittelt, dass sie nicht auf sich alleine gestellt sind, sondern dass jemand für sie da ist. Dies ist eine anspruchsvolle Aufgabe, selbst für Fachleute. Wir unterstützen deshalb Fachpersonen in Kitas, Schulen oder Heimen dabei, sich mit ihrer Rolle auseinanderzusetzen, indem wir beispielsweise folgende Fragen thematisieren: Wie können die Ressourcen und Kompetenzen der betroffenen Kinder gestärkt werden? Wie lassen sich vertrauensvolle Beziehungen gestalten? Wo kann ich mir selber als Fachperson Unterstützung holen? Und wie weit geht meine Verantwortung?
Oft zeigt sich, dass die Erarbeitung eines Leitfadens im Bereich Früherkennung und Frühintervention in Institutionen sinnvoll ist, der die Abläufe, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der involvierten Personen definiert. Dies führt zu einer Entlastung in der gesamten Institution und dient vor allem dazu, dass betroffene Kinder frühzeitig Unterstützung erfahren. Letztlich geht es ja immer um das Wohl des Kindes und darum, eine möglichst gesunde Entwicklung (vielleicht gerade trotz widriger Umstände) zu fördern.

Marion Thalmann: Das Zitat von Elia macht deutlich, wieviel Raum und Zeit ein Suchtproblem in der Familie einnehmen kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kinder häufig die ersten sind, die zu Hause auf die Mutter oder den Vater stossen, wenn sie oder er berauscht, weggetreten oder gar bewusstlos ist. Die Kinder helfen ihnen ins Bett, «verarzten» sie oder rufen den Notfall. Sie stehen oft unter starkem Dauerstress, das heisst sie leiden unter ständiger Angst, weil sie nicht wissen, was sie zu Hause erwartet.

Sarah

Zeichnung von Sarah, 7 Jahre alt

Ursina Bill: Das ist eine ganz eindrückliche und gleichzeitig beklemmende Zeichnung. Sie zeigt, wie Sara mit sieben Jahren die Rolle der Mutter übernimmt: Sie macht das Essen, schaut zur Familie und besorgt den Haushalt. Sie übernimmt die Verantwortung für und die Vermittlerrolle in der Familie. Das ist gerade in Bezug auf die Selbstwirksamkeit fatal: Sara macht so viel für die Familie, aber die Situation mit der alkoholkranken Mutter kann sie nicht beeinflussen. Das kann früher oder später zu einem Gefühl der Ohnmacht und zur Resignation führen: «Ich kann ja eh nichts bewirken.» Diese Haltung ist für die kindliche Entwicklung sicherlich keine gute Ausgangslage.
Zudem wissen wir aus der Praxis, dass in suchtbelasteten Familien oft ein strukturierter, Tagesablauf mit Ritualen fehlt. Doch gerade diese Form von Stabilität und Verlässlichkeit ist für ein gesundes Aufwachsen der Kinder wichtig.

Marion Thalmann: Sara «steht über allem», hat alles im Blick. Gleichzeitig wirken die anderen Personen erstarrt und haben keine Hände. Das symbolisiert für mich die grosse Hilflosigkeit der Situation. Die Rolle, die sie sich gibt bzw. ihr zugemutet wird, kann zur totalen Überforderung führen. Paradox ist oft die Wirkung gegen aussen: Kinder, die schon früh in solchen Situationen Verantwortung wahrnehmen, wirken auf Aussenstehende sehr selbstständig und reif, sie verhalten sich angepasst und unauffällig. Sie tun alles, um die Fassade einer «heilen Welt» zu wahren.

Ursina Bill: Deshalb ist aus meiner Sicht diese Aktionswoche so wichtig: Damit das Tabu gebrochen und auch die breite Öffentlichkeit für die Problematik sensibilisiert wird. Es mag wie ein Klischee klingen, aber es ist wichtig, in der Familie, im Umfeld, in der Schule oder im Verein vertrauensvoll über Sucht und ihre Folgen zu sprechen. Für die betroffenen Kinder ist es zentral, dass ihre Probleme wahr- und ernstgenommen und sie in ihrer Wahrnehmung gestärkt werden. Dass sie nicht nur eine Stimme haben, sondern dass ihnen auch zugehört wird und sie und ihre Eltern unterstützt werden.

Zu den Personen

Ursina Bill, Pädagogin lic. phil., ist Fachmitarbeiterin Gesundheitsförderung und Prävention bei der Berner Gesundheit.

Telefon: 031 370 70 50

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Marion Thalmann, lic. phil., Systemtherapeutin, ist Fachmitarbeiterin Beratung und Therapie bei der Berner Gesundheit.

Telefon: 031 370 70 77

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Aussagen und Zeichnungen von Kindern

Die authentischen, aber anonymisierten Aussagen und Zeichnungen sind Teil der Ausstellung «Sucht – ein ungebetener Gast. Eine Ausstellung zum Alltag von Kindern aus suchtbelasteten Familien», die im Progr Bern zu sehen ist.
Sie ist zu folgenden Daten/Zeiten der Öffentlichkeit zugänglich:

  • Dienstag, 11. Februar, 15 bis 16:30 Uhr
  • Mittwoch, 12. Februar, 15 bis 20:30 Uhr
  • Donnerstag, 13. Februar, 15 bis 19:30 Uhr
  • Freitag, 14. Februar, 15 bis 18 Uhr
  • Samstag, 15. Februar, 14 bis 20 Uhr

Nationale Aktionswoche «Kinder von suchtkranken Eltern eine Stimme geben»

Im Rahmen einer internationalen Bewegung findet vom 10. bis 16. Februar 2020 in der Schweiz zum zweiten Mal eine nationale Aktionswoche statt. Ziel ist es, den Kindern von suchtkranken Eltern eine Stimme zu geben und auf ihre Situation und ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Die Berner Gesundheit beteiligt sich mit Partnerinnen und Partnern an den vielfältigen Aktivitäten.
Weitere Informationen und Programm unter:

www.kinder-von-suchtkranken-eltern.ch